Brief vom 03.11.2010
Hallo ihr Lieben,
nochmal bezogen auf euren Rüffel: ihr habt da vollkommen recht was das Informationsdefizit angeht. Wie vorhin am Tel. angerissen - unglaublich schwierig war's, überhaupt erst mal sowas wie 'ne Linie reinzubringen. Viele sind zum ersten Male bei so'ner Aktion dabei, jeden Tag neue Vorschläge und Ideen, was jetzt in den konkreten Forderungskatalog rein soll; ob wir uns tatsächlich nur auf die 5 Tage beschränken; ob das Ganze dann als unbefristet weitergeführt werden soll oder auch ob wir nicht jeden Monat 5 Tage hungern, bis etwas umgesetzt ist.... vieles wurde nicht im Vorfeld geklärt. Meine Nerven liegen fast blank - in 'ne Gruppe von soviel Leuten auch sowas wie Diskussionskultur reinzubringen, d.h. den Anderen ausreden lassen, sich mit verschiedenen Positionen auseinander zu setzen und nicht die eigene für allein gültig zu halten und - und - und geht (neben dem Hunger) ganz schön an die Substanz.
Jetzt ist so einigermaßen Struktur drin, d.h. es herrscht Einigkeit darüber:
1. | als Vorbedingung für Gespräche mit der Knastleitung wollen wir Antworten aus dem Jumi (Justizministerium) zur Frage der zukünftigen Einrichtung SV, |
erst dann | |
2. | Verhandlungen mit der Knastleitung über den ausgearbeiteten Forderungskatalog, wobei wir flexibel bleiben und nicht die sofortige Umsetzung aller Forderungen als Bedingung stellen, bzw. erwarten. (weil z.B. eine Erhöhung des Taschengeldes auf Ebene der Legislative geregelt werden muss) |
Die konkreten Zahlen: seit Montag befinden sich 21 SVler voll im Hungerstreik; 5 Svler haben sich aus gesundheitlichen Gründen solidarisch erklärt (einer trägt ń Herzschrittmacher, Wolfgang ist gesundheitlich angeschlagen, drei haben Diabetes und Herzprobleme), diese nehmen eingeschränkt teil, d.h. verweigern mal die Mittagskost, hungern auch mal 'n Tag ganz.
Seitens von Knastleitung und Jumi wird das übliche Schema gefahren: Ignorieren, Denunzieren, Drohung, Versuche zu spalten.
Weder von Knastleitung noch vom Jumi gab's Signale, sich mit uns auseinander zu setzen - wahrscheinlich denken sie, das Ganze wäre für sie nach 5 Tagen ausgesessen. Mit Behauptungen (wie auf HNA.de vom 02.11.), wir hätten Lebensmittel "wie Brot, Margarine und Marmelade" in den Zellen und es wäre ja fraglich, ob wir überhaupt hungern oder, es wären ja schon einige abgesprungen, wird versucht, die Aktion zu verharmlosen und in's Lächerliche zu ziehen. Alle von uns haben verderbliche oder offene Lebensmittel entsorgt. Natürlich haben noch einige geschlossene Dosen oder Packungen mit Esswaren in ihren Schränken (allein schon weil's keine Möglichkeit der Auslagerung gibt), aber da findet kein heimliches Fressen statt! Zudem ist's in solchen Fällen üblich, dass der Knast registriert, was einzelne in ihren Schränken haben und die Blöße, dass bei jemandem festgestellt wird, dass er nachts aus seinen Beständen futtert gibt sich garantiert niemand.
Dann wurden Drohungen ausgesprochen, dass Streikende ihren Arbeitsplatz verlieren würden - darauf haben wir sofort mit 'ner "Gegendrohung" geantwortet, die hat auch insoweit Wirkung entfaltet, dass heute über Aufsichtsbullen erklärt wurde, wir "hätten da etwas falsch verstanden", "man" hätte lediglich darauf hingewiesen, dass Einzelne - sollten sie "schwächeln" - natürlich nicht zu Arbeit dürften, wegen der Verletzungsgefahr an Maschinen u.ä.
Zudem wurden auch Einzelne, die vom Knast wohl als labil betrachtet werden, angequatscht um sie zum Aufgeben zu bewegen.
Jeden Tag rennt einmal ein Sanitäter über die Station und bietet an, sich wiegen zu lassen und den Blutdruck zu messen. Da haben wir entschieden, dass es jedem Einzelnen überlassen bleibt, ob er das wahrnimmt oder nicht. Einige machen das, weil sie der Meinung sind, es gelte, darüber die Ernsthaftigkeit/ bzw. Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen. Andere (wie ich) vertreten die Position: 1. wir haben Bullen nichts zu "beweisen". 2. ansonsten scheißt der Knast auch gewaltig auf die Gesundheit aller Gefangenen. 3. es besteht die Gefahr, dass ggf. repressive Maßnahmen wie z.B. Zwangsverlegung ins Knastkrankenhaus darüber begründet werden können. 4.diese Form der "Fürsorge" folgt einfach nur einem vorgegebenen Punkt des Katalogs "Umgang mit hungerstreikenden Gefangenen". 5. auch die Ungewissheit über den aktuellen Zustand des Einzelnen kann nochmal zusätzlich Druck erzeugen.
Gestern kam gegen Mittag dann überraschend ein Marburger Staatsanwalt auf die Station und hat mit ca. 15 Leuten gemeinsam im Freizeitraum diskutiert. Vorgeblich deshalb weil er wegen eines größeren Drogenfundes gerade in der Anstalt wäre und sowieso "mal mit den SVlern sprechen wollte, da in den letzten Wochen ca. 15 Strafanzeigen gegen den Anstaltsleiter eingegangen wären, wegen einer angeblich rechtswidrigen Unterbringung" (die er natürlich nicht weiter verfolgen würde). Und da hätte man ihn informiert, dass gerade ein HS im Gange sei und "auch von draußen irgendwelche Aktionen angekündigt wären"...
Allein schon durch seine Art zu fragen und das "Gespräch" zu führen war offensichtlich, was seine primäre Intention war: abzuchecken, ob sich aus der Geschichte ggf. 'ne Meuterei o.ä. machen lässt und ob's einen Steuermann gibt.
Genau so hab ich's ihm dann auch vorgehalten. Klar, dass dass er diese Absicht vehement bestritten hat. Nachdem ihm klar geworden ist, dass er da in's leere läuft, hat er sich dann auch verpisst. Schon einen Tag vorher - mit Beginn des HS - wurden ein paar Leute angequatscht (mal von Aufsichtsbullen, aber auch vom "Sozialarbeiter") nach dem Motto: der Text der Erklärung wäre ja recht gut, wer ihn denn verfasst habe. Und ob es denn nicht "sowas wie einen Sprecher oder Repräsentanten der Gruppe" gäbe.... Natürlich ist der Apparat bestrebt sowas wie 'nen Organisator zu verorten. Ist aber in der Hinsicht scheißegal, dass es ihnen möglich ist, diese Aktionsform zu kriminalisieren. Ich denke, dass ihnen, allein schon von Ausdruck und Diktion her klar ist, wer die HS-Erklärung formuliert hat. Ein Knastbulle hat mir auch schon am Montag direkt gesagt, dass wahrscheinlich niemandem außer mir das Potentiel zugetraut wird, "so etwas" auf die Beine zu stellen.... Aber darauf ist geschissen. Möglich, dass man seitens des Jumi überlegt, unter welchem Vorwand man mich evtl. von hier wegschaffen kann ["ENTLASSUNG" ! grins]. Aber de facto wird's ihnen nicht möglich sein - vom rein rechtlichen her, werden sie da nichts konstruieren können, was dauerhaft Bestand hätte. Zudem ist es Konsens unter uns, dass jede repressive Reaktion gegen irgendeinen von uns zur Folge haben wird, dass die Aktion kein Ende haben wird, bevor nicht alles zurückgenommen wird.
Natürlich ist damit zu rechnen, dass ich's zu spüren kriegen werde, wenn sie mich als Motor begreifen. Etwa wenn es um die Gestaltung der nächsten Zeit in vollzuglicher Hinsicht geht. Aber diesen Preis bezahle ich gerne!
Irgendwie schon schön zu sehen, wie angepisst diejenigen sind, die bisher Einzelne angequatscht haben, entweder um Infos zu bekommen oder um zu spalten: ihre übliche Strategie versagt. Vereinbarte Linie ist nämlich auch, dass jeder sofort klarstellt, Gespräch findet nur im Beisein ALLER Streikenden statt. Daran wird sich bisher auch konsequent gehalten.
Wir sitzen mindestens einmal täglich zusammen um miteinander zu reden, uns auszutauschen, gegenseitig zu stärken. Was ich noch vor ein paar Wochen für unmöglich gehalten habe: ob Vergewaltiger, Dieb, Mörder .... die persönliche Sicht des Einzelnen auf den Anderen bleibt außen vor. Es ist begriffen worden, dass man auch für ein gemeinsames Interesse kämpfen kann ohne sich unbedingt persönlich zu mögen. Da bleibt (hoffentlich) auch für jeden Einzelnen was für die Zukunft hängen.
Wie du am Tel. sagtest, ist die Fehlinformation aufgetaucht, dass sich Strafgefangene am HS beteiligen würden. Das ist nicht der Fall. Die ganze Sache, bis hin zu den Forderungen, bezieht sich ausschließlich auf die Situation der SVler.
Selbstverständlich wird's im Apparat ein großes Arschflattern geben, dass unsere Aktion evtl. auch eine Signalwirkung auf die Gefangenen der Strafhaft haben könnte. Oder auf SVler in anderen Bundesländern. Darüber begründet sich auch die Befürchtung, dass wir's schwer haben werden in Bezug auf den konkreten Forderungskatalog. Das ist uns allen klar. Aber es demoralisiert uns nicht.
Die einzelnen Punkte der Forderungen wurden kollektiv erarbeitet. Ich habe bewusst darauf verzichtet, sie bzgl. der Sprache oder Formulierungen zu überarbeiten - sie sind eindeutig und verständlich.
Sie beziehen sich darauf, wie unserer Vorstellung nach die Bedingungen innerhalb der JVA Schwalmstadt umgestaltet werden müssen, bis letztendlich (irgendwann) eine Ausgliederung stattfindet.
Heute wurde auf unserer Vollversammlung aufgrund der Tatsache, dass niemand in positiver Absicht die Auseinandersetzung mit uns gesucht hat, beschlossen: der bisher noch befristete Hungerstreik wird - sofern sich auch am Donnerstag/ Freitag - nichts bewegt, ab Samstag in einen unbefristeten übergehen.
Worüber noch Unklarheit herrscht ist, unter welchen Bedingungen dieser dann ausgesetzt bzw. beendet wird. Hier stehen sich noch zwei Positionen gegenüber: ein Teil der Streikenden ist der Meinung es genüge, wenn wir das Jumi an den Tisch bekommen, der andere will erst alle Forderungen des Katalogs, die sich eigentlich sofort erfüllen lassen und lediglich einer knastinternen Neuregelung bedürfen (Punkte 1,2,3,7,10,11) erfüllt sehen. Da werden wir noch schnellstens zu 'ner einheitlichen Entscheidung kommen müssen.
Ich weiß, für euch muss das vollkommen chaotisch wirken. Ist es teilweise auch. Natürlich hätten solche wesentlichen Punkte schon in einer Vorbereitungsphase geklärt werden müssen. Aber die Entstehungsgeschichte war nun mal nicht die einer gut durchdachten, geplanten und vorbereiteten Aktion. (Würde jetzt zu weit gehen, das genau auszuleuchten.) Dann wäre es auch nicht zu diesem fürchterlichen Defizit an Infos gekommen, was u.a. dem Apparat möglich gemacht hat, seine Version zu verbreiten.
Das Problem, aktuelle Infos zeitnah zu übermitteln wird wohl bestehen bleiben. Da dieser Brief abseits von Zensur auf den Weg geht, kann ich's ruhig ansprechen: hier oben gibt's derzeit keine Möglichkeit auch mal auf'n Handy zurückzugreifen. (Eigentlich traurig, bei all den Kriminellen.... grins) Das offizielle Telefon läuft leider über Kontoguthaben und nicht über Karte.
Wir müssen auch damit rechnen, dass ab 'ner gewissen Eskalationsstufe auch da rumgepfuscht werden wird.... evtl. bedauerliche technische Probleme o.ä.....
Bleibt also nur der direkte Briefkontakt, der zensiert wird - und wo ein Brief auch mal liegen bleibt oder ganz verschwindet. Oder über Andreas (Rechtsanwalt), der's dann weiterleitet.
P. aus ... bekommt am Wochenende 'nen Besuchsschein für den 15.11. von mir.
Ich werde Sylke Grede mal anschreiben und anbieten, auch mal einen Besuchsschein zu nutzen. Ansonsten wird sie Post von uns zur Situation und aktuellen Entwicklung bekommen. (Sofern die Zensur sie durchlässt. Eine Möglichkeit für uns wäre aber, jedes Schreiben als Einschreiben zu deklarieren - ist zwar kostenträchtig, aber beschränkt die Möglichkeit des Knasts, da etwas zu unterschlagen)
Soweit für heute. Mir brummt der Kopf auch die Konzentration ist am Ende. Ganz liebe Grüße auch von Wolfgang soll ich sagen!
Euch drück ich herzlich und feste
Venceremos! Lutz