Brief vom 09.05.2011

Brief 09.05.2011


Liebe K........., lieber R.........,

kann mir gut vorstellen, was es für'ne Überraschung ist, von jetzt auf gleich zu so einem komplexen Thema öffentlich was sagen zu sollen. Erstmal Dank für den Ausdruck. Wir haben dann am Wochenende über den Anwalt eines Kollegen auch die Vollfassung, d.h. den vollständigen Urteilstext bekommen. Hat einen Umfang von 38 Druckseiten (!!!) und ist sowohl für die Ebene der gestzgebenden Politik als auch für die Macher auf der vollzugspraktischen Ebene 'ne richtige Klatsche.
In der Pressemitteilung des BverfG ist eigentlich schon ganz gut und umfänglich dargestellt, was die Vorgaben für die Zukunft angeht. Manche Aspekte sind auch in der kompletten Fassung noch etwas weiter ausgeführt, wie z.B. auch die Vorgabe, es strikt zu unterlassen, durch Landesgesetze oder Länderverordnungen den Kerngehalt dieser Rechtssprechung unterlaufen zu wollen.
Konkret bedeutet das Urteil jetzt erstmal: alle sog. „Altfälle“ (d.h. Verurtelung vor 1998) die über zehn Jahre in der SV sind, müssen sofort daraufhin geprüft werden, ob die Gefährlichkeit so hoch anzusiedeln ist, dass eine Unterbringung nach ThUG (Therapieunterbringungsgesetz) in Frage kommt. Wenn nicht, hat bis spätestens Ende dieses Jahres die Freilassung zu erfolgen.
Während der Übergangsfrist von 2 Jahren haben zudem die Vollstreckungsgerichte (für uns Marburg) die Pflicht, sich bei ihren Entscheidungen an den Maßstab „hohe Unwahrscheinlichkeit schwerster Gewalt – oder Sexualstrafen“ zu orientieren und alles, was nicht darunter fällt aus der SV zu entlassen. Zudem ist jetzt – im Gegensatz zu früher – jedes Jahr die Fortdauer zu überprüfen.
Ferner müssen alle, die die nachträgliche SV bekommen haben, frei kommen, sofern sie nicht unter den sehr eng gefassten Katalog des ThUG fallen. In dieser Beziehung stehen se vor dem Problem, dass Leuten 'ne schwerwiegende Persönlichkeitsmacke reingedrückt werden muss, die auf strafrechtlicher Ebene als voll schuldfähig angesehen werden.

Was unseren konkreten Alltag angeht, wird sich wohl in nächster Zeit erstmal nichts ändern. Wir haben aber ganz klar im Blick, dass das BVerfG bzgl. der Gestaltung verlangt:
a) auf Erlangung der Freiheit + Therapie gerichtet
b) keine anderen Beschränkungen außer "äußere Freiheit" und dem was zur Aufrechterhaltung sog. "innerer Ordnung" notwendig ist.

Da gilt es nun, sich zusammenzusetzen und zu überlegen, was wir sofort verlangen können/ sollen - orientiert an der Linie, was auch realisierbar wäre. Komme ich gleich nochmal drauf zurück.

Perspektivisch wird bis Ende Mai 2013 die gesamte SVbegleitende Gesetzgebung zu erneuern sein. Was den Vollzug der SV angeht, soll der Gesetzgeber einen bundeseinheitlichen Rahmen schaffen an dem sich die Länder dann auch zu orientieren haben.
Auch was die bauliche und personalausstattungsmäßige Endform der SV angeht müssen se bis dahin in die Pötte gekommen sein um zu verhindern, dass die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Vollzugs dann zur Freilassung aller SV'er führen würde.
Null Ahnung, wie se das stemmen wollen, sowohl materiell (Bauten) als auch Kohle-mäßig. Am Tag der Urteilsverkündung gab's in der Hessenschau ein Intrview mit Hahn als Jumi. Der schwafelte dann irgendwas von 5 Millionen € an notwendiger Investition um die Vorgaben erfüllen zu können. Eine Zahl, die absoluter Blödsinn ist - zu diesem Preis kriegt er vielleicht 'ne Holzbaracke mit Heizung, aber kein Gebäude mit ca. 40-50 Wohneinheiten + Infrastruktur (von Personal mal ganz abgesehen, er kann nicht einfach irgendwo Leute abziehen sondern muss mind. 30 neue Planstellen schaffen z.B.).
Unter dem Eindruck von dem, was jetzt in kürzester Zeit ansteht, erscheint es auch nicht unwahrscheinlich, dass dieses schon einmal diskutierte Modell eines sog. Länderverbundes realisiert wird. Gerade im Hinblick auf die Kosten: z.B. gedrittelt oder geviertelt ist's für die Landeshaushalte erträglicher. Aber augenblicklich läßt sich diesbezüglich nur spekulieren.

Nochmal zu dem vorhin angesprochenen Punkt: vorstellbar ist, dass se bei Forderungen mit sich reden lassen, die nichts kosten. Der Knastleitung wird's erstmal darum gehen, die Zeit bis zur Endform aussitzen zu wollen, soweit sie's können. Wird auch an uns liegen. Ich will keine Diskussionen um noch größere Glotze - Bildschirme oder Microwelle oder Blumenvasen auf der Hütte. Was ich auf'm Tisch haben will ist dieser inkompetente Sozialdienst, ich will keine monatelangen Verschiebungen von Vollzugsplänen mehr sehen. Es muss darum gehen die jetzt verlangte Freiheitsorientierung konkret umzusetzen.

Tja, was kann man aus interner Sicht dem Apparat mit auf den Weg geben... gute Frage. Eine Antwort wird sich erstmal auf's Allgemeine beschränken müssen: die vom BVerfG verlangten Änderungen nicht nur zügig, sondern auf der Ebene der Absichten auch ernsthaft anzugehen. In der Vergangenheit hat sich das ganze Handeln darin erschöpft, Vorgaben zu unterlaufen oder auszuhöhlen. Beispielhaft ist die neuere Gestzgebung zur SV, die ihnen jetzt vor die Füße gefallen ist... auch nach dem Mücke - Urteil vom EGMR ging es so offensichtlich nur darum, über rechtliche rumtrickserei den Kerngehalt dieser Rechtssprechung auszuhebeln.
Die unmittelbar Betroffenen werden im folgenden Umgestaltungsprozess sowieso keine Stimme haben. Was man ihnen noch auf den Weg geben sollte: sich bei den ausstehenden Änderungen weitestgehend an ihren Kritikern zu orientieren.

Unabhängig davon müßte - ausgehend von der Feststellung, die SV beruhe zentral auf einer Gefährlichkeitsprognose - die nächste Angriffslinie ganau da ansetzen: der Fragestellung, mit welchen Instrumenten man "Gefährlichkeit" messen zu meint, wie zuverlässig bzw. unzuverlässig dieses Instrument ist. Da gibt es 'ne Menge Stoff aus der empirischen Forschung, die genau diese Grundlage erheblich in Frage stellt. Bedauerlicher weise hat das BVerfG diesen Aspekt nicht aufgegriffen.

Was auch noch denkbar (und wünschenswert wäre): dass ein Umdenken dahingehend stattfindet, dass sie wirklich nur noch diejenigen in der SV belassen, bei denen aufgrund genügend Konkreter Hinweise anzunehmen ist, dass "draußen" Übles von ihnen angerichtet würde.
Ihr jetzt entstandenes "Problem" wäre einfacher zu managen, wenn man 'ne Zahl von SV'ern hätte, wie bis in die 90er rein (Bundesdurchschnitt 190). Vielleicht kommt man ja wieder dahin....

Hinsichtlich der verweigerten Interviewgenehmigung läßt sich recht wenig machen. Auch deshalb, weil ich - streng rechtlich gesehen - "nur" mittelbar Betroffen bin. Reuters hätte da klagen müssen/sollen, da in erster Linie ihr Intersse betroffen war.
Unbenommen bleibt es mir ja nach wie vor, mich z.B. schriftlich zu äußern.
P....... sagte mir beim letzten Besuch, dass es in Marburg 'ne Gruppe kritischer Jura-Studies gibt, die auch 'ne eigene Publikation herausgeben. Von denen wäre Interesse geäußert worden, mit mir in Kontakt zu treten, Mal abwarten, ob und wie etwas daraus wird.
Mauer hat natürlich nicht nur die Funktion 'ne Flucht zu verhindern, sie dient auch dazu, den Blick ins Gefängnis zu trüben. Die Deutungsmacht und Darstellung soll in ihren Händen bleiben. Und gerade jetzt, in der Zeit, in der 'ne repressive Strafideologie wieder im kommen ist, mag man eben keine Stimmen wie meine/unsere. Von daher eigentlich folgerichtig, dass alles abgewürgt wird. Hätte mich echt gewundert, wenn's anders gewesen wäre.

Für mich wird das aktuelle Urteil erstmal keine direkte Wirkung entfalten. Es wird auch weiterhin alles darauf hinlaufen müssen, eine Situation bzw. Voraussetzungen zu haben die gutachterlich so gewertet werden, dass die "Erprobung" erfolgreich gelaufen ist, Entlassungssituation positiv stabil erscheint und dadurch Rückfallgefahr als "nicht mehr erheblich" angesehen wird.
Was sich verbessern wird ist die Möglichkeit, den Knast in Zukunft effektiver zu zwingen (gerichtlich), "planmäßig gebotene Maßnahmen zügig und konsequent umzusetzen" -. falls sich abzeichnet, dass weiteres rumzicken angesagt ist.


OK, soweit für den Moment. Falls noch Fragen offen sind, meldet euch. Werde am Dienstag, 17.Mai mal so gegen 20:15/20:30 anrufen.


Drück euch beide ganz doll
ciao Lutz-Brief