Artikel aus dem ak 395 - 17.Oktober 1996 (Seite 26, Innenpolitik)
Hessische Knastmauern - grün gestrichen
Hessens Justizminster Rupert von Plottniz (Bündnis90/Die Grünen) ist ein erfahrener Verteidiger. Die regelmäßigen Attacken der CDU-Oposition im Landtag gegen seine Person als "ehemaligen RAF-Anwalt" und "Sicherheitsrisiko für Hessen" wehrt der 55jährige Jurist gelassen mit dem Hinweis auf seine untadelige Amtsführung ab: Die Zahl der Ausbruchsversuche von Gefangenen aus hessischen Knästen liegt im Länderdurchschnitt, Abschiebehaft wird in seinem Zuständigkeitsbereich weisungsgemäß vollzogen und der von der RAF gesprengte Gefängnisneubau in Weiterstadt planmäßig fertig gestellt.
Kritik von links, etwa von engagierten Knastgruppen, weisen Hessens Bündnis-Grüne unter Verweis auf den Druck der CDU-Opposition gegen den fortschrittlich eingestellten Parteigenossen ab. Der Minister, der in Interviews gern für die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe und Entkriminalisierung von Drogenkonsum und Ladendiebstahl eintritt ("Ich habe auch mal gekifft", Süddeutsche Zeitung, 6.4.95) würde demnach gern anders handeln - kann aber nicht. So gibt es in Hessen, nicht anders als in anderen Bundesländern, prügelnde Schließer, Abschiebehaft, Sicherungsverwahrung - wie gehabt.
Lange Jahre war "der Rupert" gern gesehener Gast beim Grünen-Arbeitskreis in der Kasseler Justizvollzugsanstalt (JVA) Wehlheiden gewesen, einer Gruppe mit wöchentlichen Treffen von Gefangenen und externen ehrenamtlichen Mitarbeitern. Vom Protest gegen miserable Arbeitsbedingungen bis hin zur Amnestieforderung anläßlich der Wiedervereinigung: auf alles war der damalige justizpolitische Sprecher der Landtagsfraktion ansprechbar.
"Verordneter Selbstmord"?
Inzwischen hat sich die Situation geändert. Ein ehrenamtlicher Mitarbeiter der Gruppe bekam Hausverbot in der JVA, nachdem Informationen über die Hintergründe des Todes zweier algerischer Gefangener aus dem Knast nach außen gedrungen waren. Die Kasseler Grünen klagen über die angeblich mangelnde Kooperationsbereitschaft des parteilosen Abeitskreismitglieds und verweigern ihm jegliche Unterstützung.
In der Nacht zum Pfingstsonntag 1996 waren zwei algerische Untersuchungshäftlinge bei einem Brand in ihrer Zelle im Krankenhaus (Station E) der JVA Wehlheiden umgekommen. Für den Anstaltsleiter Geißler war schon am Sonntagmorgen die Sachlage eindeutig geklärt: Selbstmord. Die Tür der Zelle sei von innen verbarrikadiert gewesen. Deshalb kam nach seiner Darstellung jede Hilfe zu spät, obwohl die Feuerwehr sehr rasch zur Stelle gewesen wäre. Auch der Jstizminister nahm vor Ort öffentlich Stellung zum Tod der algerischen Gefangenen. "Justizminister Rupert von Plottnitz (Grüne), der am Sonntag in Kassel war, versicherte, daß die Station E so schnell wie möglich wiederhergestellt werden solle, um Engpässe im Vollzugskrankenhaus zu vermeiden. Das jüngste bedrückende' Ereignis zeige zudem, so Plottnitz, wie dramatisch Untersuchungsgefangene ihre Situation oft empfänden." (Frankfurter Rundschau, 28.5.96)
Mitgefangene der beiden Algerier haben tatsächlich Bedrückendes berichtet, nämlich daß
- die beiden Getöteten seit Tagen unter starken Beruhigungsmitteln standen, sehr aphatisch waren und die Nächte durchgeschlafen haben sollen;
- sie einen Tag vorher nicht im Besitz von Streichhölzern oder Feuerzeugen wa ren;
- Mitgefangene 35 Minuten Hilferufe gehört haben, ohne daß sich auf der Station etwas getan hätte;
- die Zellentüren nach außen aufgehen, was eine wirksame Verbarrikadierung ausschließt;
- die Notrufanlage in der Zelle schon sechs Wochen defekt gewesen sein soll;
- Zeugen der Brandnacht verlegt oder massiv eingeschüchtert werden, um nichts außer der offiziellen Verlautbarung nach außen dringen zu lassen.
Dies Aussagen zitiert die Kasseler "Elwe-Prozessbeobachtungsgruppe" in einem offenen Brief an den Justizminister und verschiedene bündnisgrüne Gremien in Hessen. Die Gruppe ist seit der Revolte in der Kasseler Untersuchungs- und Abschiebehaftanstalt "Elwe" im Sommer 1994 aktiv. Im offenen Brief forderte sie Aufklärung über die jüngsten Todesfälle und die justizinternen Vertuschungsversuche.
Nach drei Wochen kam aus dem Wiesbadener Justizministerium folgende Mitteilung eines Herrn Knappik: "Auf Ihr Schreiben, das dem Leiter des Ministerbüros vorgelegen hat, kann ich Ihnen mitteilen, daß nach dem bisherigen Kenntnisstand keine Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten von Bediensteten oder Organisationsmängel vorliegen." Weitere Stellungnahme lassen auf sich warten.
Eine andere Kasseler Gruppe hat ebenfalls gute Gründe, den hessischen Justizminister an seine Versprechungen zu erinnern. Ihre Forderung ist zunächst überraschend, setzt sie sich doch seit einem Jahr für die Rückverlegung eines Gefangenen in einen hessischen Knast ein.
"Besonders gefährlicher Gefangener"
Lutz Balding wurde wegen mehrerer bewaffneter Banküberfälle in den 80er Jahren in verschiedenen Verfahren zu insgesamt 29 Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.
Nach zwei fehlgeschlagenen Fluchtversuchen über die Mauer der hessischen JVA Schwalmstadt ließ das Wiesbadener Justizministerium Lutz Balding im November 1995 nach Baden-Württemberg verschleppen. In der JVA Bruchsal ist er als "besonders gefährlicher Gefangener" weitgehend isoliert. Außer zensierten Briefen bleiben für Kontakte nach draußen im Monat zwei einstündige, von Beamten überwachte, Besuche. Eine Woche nach der Verlegung begann Lutz Balding einen Hungerstreik, mit dem er die sofortige Rückverlegung nach Schwalmstadt forderte. Er brach nach zehn Tagen ab, um draußen Raum für Öffentlichkeitsarbeit zu lassen. Die BesucherInnen schrieben im Dezember an Plottnitz: "Wir wenden uns an Sie als den für die Haftbedingungen und die Zwangsverlegung verantwortlichen Justizminister mit der Forderung nach Rückverlegung und grundsätzlicher Prüfung der Haftsituation von Lutz Balding. Wir begründen diese Forderung mit dem Recht des Herrn Balding auf eine Lebensperspektive. Damit meinen wir zunächst Haftbedingungen, die nicht einzig und allein darauf ausgerichtet sind, ihn als Menschen zu brechen. Mit Lebensperspektive meinen wir aber vor allem die reale Aussicht auf ein zukünftiges Leben in Freiheit. Die derzeitige Situation von Lutz Balding ist eine andere. Er hat als heute 37jähriger den 8.5.2020 als Entlassungstermin. Er hat sich bislang dafür entschieden, selbstbestimmt den Weg in die Freiheit zu suchen, d.h. bei jeder sich bietenden Möglichkeit die Flucht zu versuchen. Wir erwarten von Ihnen aufgrund ihrer Erklärungen gegen die lebenslängliche Freiheitsstrafe und für eine Humanisierung des Strafvollzugs, daß Sie Ihre Möglichkeiten ausschöpfen, Gefangenen wie Lutz Balding eine Perspektive zu eröffnen."
Die schriftliche Antwort des Herrn Mühlberger aus dem Grünen-Ministerium: "Die Gründe der Verlegung liegen ausschließlich im Verhalten des Verurteilten Balding. Die Dauer, die Herr Balding noch im Vollzug zuzubringen hat, hängt demnach in besonderem Maße von seinem eigenen Verhalten ab. Es liegt somit an ihm selbst, welche Lebensperspektive er auf der Grundlage der bestehenden Umstände für sich entwickelt. Im übrigen verkenne ich nicht Ihr persönliches Engagement für den Verurteilten Balding."
Zur Aussicht auf vorzeitige Entlassung hatte Balding in seiner Hungerstreikerklärung vom 20.11.95 geschrieben: "Eine andere Perspektive als Knast bis zum Ende wird es seitens des Apparats nicht geben, weil ich sage: heute begreife ich mich - meine Vergangenheit, meine Situation " in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Diese kaputte Kiste, Identität über Konsum, Besitz, Macht zu finden, mit irre viel Kohle das Glamourleben der Upper-Class nachäffen zu wollen, waren Wegweiser und bestimmend. Das liegt heute hinter mir. Damit stehe ich diametral zu der Rolle, die der Apparat und breite Teile der Bevölkerung einem gefangenen 'Verbrecher' zugedacht haben: er soll die auf Bereicherung und Besitz angelegten Gesellschaftsideale anstreben, nur, im Gegensatz zu früher, jetzt legal."
Mittlerweile sind wieder annähernd 365 Knasttage vergangen.
Lutz Balding ist seit 30. September im Hungerstreik. In seiner Erklärung schreibt er: Vor einigen Monaten hatte ich ein Gespräch mit dem Knastleiter Rehring; ich hatte das beantragt, um über die Belastungen der Besuchs- und Anwaltskontakte zu reden und zu erklären, daß es wegen der großen räumlichen Entfernung zu meinem Lebensmittelpunkt kaum möglich ist, von hier aus an einer Entlassungsperspektive zu arbeiten. Sein dreckiges "Angebot" darauf:ich sollte eine Zeitlang meine Mitgefangenen bespitzeln und bei entsprechender Qualität der zugetragenen Informationen könne man ohne Probleme eine Rückverlegung aus Sicherheitsgründen, bzw. aufgrund persönlicher Gefährdung durchführen. Justizminister von Plottnitz versucht, in der Öffentlichkeit, mit einem "fortschrittlichen" Image zu glänzen. Tatsächlich aber bedient er sich des gesamten Instrumentariums der Repressionen, weil es darum geht, Auseinandersetzung zu vermeiden.